Die Wanderung des Europäischen Aals (Anguilla anguilla) ist eines der faszinierendsten und am längsten unerforschten Rätsel der Natur. Über Jahrhunderte hinweg war das Fortpflanzungsverhalten dieser Fische ein Mysterium. Erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts konnte die Wissenschaft dieses Geheimnis lüften und den unglaublichen Laichplatz der Aale identifizieren: die Sargassosee.
Das Mysterium der Aal-Fortpflanzung
Lange Zeit wusste man nicht, wo sich Europäische Aale fortpflanzen. Man fand zwar junge Aale, sogenannte Glasaale, die aus dem Meer in die Flüsse aufstiegen, aber erwachsene, laichreife Aale wurden nie in Küstengewässern oder Flüssen beobachtet. Die Vorstellung, dass Aale aus dem Schlamm entstünden oder sich durch spontane Generation entwickelten, hielt sich hartnäckig.
Der dänische Meeresbiologe Johannes Schmidt widmete sein Leben der Suche nach dem Laichplatz der Aale. Er verfolgte die Spur der immer kleiner werdenden Aallarven (Leptocephalus-Larven) zurück in den Atlantik. Über Jahre hinweg sammelte er Proben und untersuchte tausende von Larven, um herauszufinden, wo die kleinsten Exemplare zu finden waren.
Die Entdeckung der Sargassosee
Schmidts akribische Arbeit führte ihn schließlich in die Sargassosee, ein Gebiet im westlichen Atlantik, das durch seine spezifischen ozeanografischen Bedingungen gekennzeichnet ist. Die Sargassosee liegt in der Nähe des Bermudadreiecks und wird von starken Meeresströmungen wie dem Golfstrom begrenzt. Das Besondere an diesem Gebiet sind die großen Mengen an Schwimmtang (Sargassum), die an der Oberfläche treiben und der See ihren Namen gaben.
In der Sargassosee fand Schmidt die kleinsten Aal-Larven, ein eindeutiger Beweis dafür, dass sich die Aale dort fortpflanzen. Dies war eine bahnbrechende Entdeckung, die das Rätsel um die Aal-Fortpflanzung endlich löste. Die Erkenntnis, dass sich Europäische Aale tausende Kilometer von ihren europäischen Lebensräumen entfernt fortpflanzen, war eine Sensation.
Warum Laichen Aale in der Sargassosee?
Die Gründe, warum Aale die Sargassosee als Laichplatz wählen, sind komplex und noch nicht vollständig verstanden. Es gibt jedoch einige plausible Erklärungen:
- Stabile Umweltbedingungen: Die Sargassosee bietet relativ stabile Wassertemperaturen und Salzgehalte, was für die Entwicklung der empfindlichen Aal-Larven von Vorteil ist.
- Nahrungsreichtum: Die Sargassosee ist reich an Plankton und anderen Kleinstlebewesen, die als Nahrung für die Larven dienen.
- Strömungsverhältnisse: Die Meeresströmungen in der Sargassosee, insbesondere der Golfstrom, tragen dazu bei, die Larven in Richtung Europa zu transportieren. Die lange Entwicklungszeit der Larven von etwa zwei bis drei Jahren ermöglicht es ihnen, sich passiv mit den Strömungen treiben zu lassen und so ihre europäischen Aufwuchsgebiete zu erreichen.
- Evolutionäre Gründe: Man geht davon aus, dass die Sargassosee der ursprüngliche Lebensraum der Aale war. Im Laufe der Evolution haben sich die Aale an die Bedingungen in europäischen Flüssen und Küstengewässern angepasst, sind aber ihrem angestammten Laichplatz treu geblieben.
Die lange Reise der Aale ist ein enormes Investment an Energie. Die Aale stellen während ihres Wachstums in europäischen Gewässern ihre Nahrungsaufnahme ein und leben von ihren Fettreserven, um die Fortpflanzung und die Rückreise in die Sargassosee zu ermöglichen. Es ist wahrscheinlich, dass nur ein geringer Prozentsatz der Aale die Laichreife erreicht und tatsächlich die Sargassosee erreicht. Die präzise Navigation der Aale über tausende von Kilometern ist ein weiteres ungelöstes Rätsel.
Die Gefährdung des Europäischen Aals
Der Europäische Aal ist heute stark gefährdet. Die Gründe dafür sind vielfältig und komplex. Neben dem Verlust von Lebensräumen durch Flussbegradigungen und Staudämme spielen die Überfischung, die Verschmutzung der Gewässer und der Klimawandel eine Rolle.
Der Bau von Wasserkraftwerken stellt eine besondere Bedrohung dar. Die Aale werden bei ihrer Wanderung zu den Laichplätzen oft durch die Turbinen getötet. Der Schutz der Aale erfordert daher internationale Zusammenarbeit und umfassende Maßnahmen zum Schutz ihrer Lebensräume und zur Reduzierung der Fischerei.
Die Erforschung der Aale und ihrer Wanderung ist weiterhin von großer Bedeutung, um die Ursachen für ihren Rückgang besser zu verstehen und wirksame Schutzmaßnahmen zu entwickeln. Nur so kann sichergestellt werden, dass diese faszinierenden Fische auch in Zukunft in unseren Gewässern leben und sich fortpflanzen können.